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Logotherapie und Psychiatrie

 

Viktor Frankl war Professor für Neurologie und Psychiatrie. Er hat sich im Rahmen seines Werkes detailliert mit psychotischen Störungen auseinandergesetzt, vorrangig mit der endogenen Depression (Melancholie) und der Schizophrenie. Das Besondere dieser Auseinandersetzungen liegt in der Verbindung von Logotherapie und psychiatrischer Intervention. Da psychotische Erkrankungen biologisch bedingt sind, kann es natürlich keine Logotherapie der Psychosen geben. Da sich jedoch psychotische Erkrankungen massiv auf die Psyche des Menschen auswirken, muss man dem betreffenden Menschen auch psychotherapeutisch / logotherapeutisch zur Seite stehen. Logotherapie bei Psychosen, als zusätzliche unterstützende Therapie, neben der pharmakologischen Intervention, ist daher durchaus angezeigt.

Frankl entfaltet die Logotherapie bei Psychosen im Horizont einer fundamentalen anthropologischen Prämisse und zweier Fragestellungen. Die Prämisse hat die Form eines ärztlichen Glaubensbekenntnisses. Frankl nennt es sein psychiatrisches Credo. Damit ist der „Glaube an das Fortbestehen der geistigen Person auch noch hinter der vordergründigen Symptomatik psychotischer Erkrankungen“ (V. Frankl, Der Wille zum Sinn, Bern 1972, S. 110) gemeint. Dahinter steht die Anschauung, dass die Person als geistiges Phänomen jenseits der Alternative von gesund und krank existiert. Geist kann nicht erkranken. Was erkranken kann, sind die physischen Organe, welche die Person in ihrer Geistigkeit erscheinen lassen bzw. zum Ausdruck bringen. Das Gehirn des Menschen kann erkranken. Sein Nervensystem kann erkranken. Geistes-Krankheiten im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Dahinter steht auch die Anschauung, dass das neuronale Netz des Gehirns mit seinen Milliarden von Nervenzellen das Phänomen „Geist“ nicht produziert. Dass vielmehr umgekehrt der an sich existierende personale Geist durch das Gehirn gespiegelt, durch das Gehirn zum Ausdruck gebracht und auf diese Weise kommunikativ wird. Gehirn hat Frankl zufolge instrumentelle Funktion. Es ist das Instrument, die Person in ihrer Geistigkeit „sichtbar“ zu machen.

Was Frankl als psychiatrisches Glaubensbekenntnis formuliert, hat eminente Bedeutung für den Arzt-Patienten-Bezug. Geht der Arzt, im Gegensatz zu Frankl, von der monistischen Hypothese aus, dass das Gehirn Geist produziere, dann wird für ihn der Kranke als geistige Person in dem Maße verschwinden, in dem sein Gehirn verletzt ist. Geht der Arzt im Sinne des psychiatrischen Credos jedoch davon aus, dass das Gehirn nicht der Produzent, vielmehr lediglich Ausdrucksinstrument des Geistes sei, dann wird er hinter aller zerebralen Zerrüttung und Verrückung die Person des Kranken wahrnehmen und entsprechend mit ihm umgehen. Vor allem wird er sich bemühen, nicht vorrangig die jeweilige Störung wahrzunehmen, vielmehr das Gesundgebliebene. An ihm wird er anknüpfen. Es wird er stärken.

Auf der Basis des psychiatrischen Credos entfaltet Frankl nun seine Logotherapie bei Psychosen im Blick auf zwei grundlegende Fragestellungen. Die eine lautet: Was muss ich als Psychiater im Umgang mit einem psychotischen Menschen tun, um diese Beziehung optimal zu gestalten? Die andere lautet: Wie kann der psychotisch Erkrankte in optimaler Weise mit sich selbst umgehen? Oder anders: Was kann ich als Arzt dazu beitragen, dass der unter einer Psychose leidende Mensch eine Einstellung zu seiner Krankheit und einen Umgang mit seiner Krankheit gewinnt, die unter psychohygienischer Perspektive optimal sind? Hinter diesen Fragen steht die Erkenntnis, dass die Art des jeweiligen Umgangs die Störung verschärfen, aber auch lindern kann. Dies betrifft sowohl den Umgang des Arztes mit dem Patienten als auch den Umgang des Patienten mit sich selbst. Das entscheidende Stichwort in diesem Zusammenhang ist Pathoplastik. Es bezieht sich auf die Fähigkeit des Menschen, sein Leiden (Pathos) in der Weise, wie er es versteht und wie er mit ihm umgeht, zu gestalten (Plastik = Gestalt). Es macht einen Unterschied, ob ich gegen eine melancholische Phase innerlich ankämpfe oder sie einfach über mich ergehen lasse. Es macht einen Unterschied, ob ich mich als durch und durch psychotisch erlebe oder mich geistig zu distanzieren unternehme. Und dies im Mittel der inneren Formel: „Da ist die Psychose. Da bin ich. Sie gehört in gewisser Weise zu mir. Aber sie macht mich nicht aus.“ Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Einsicht, dass der Mensch als geistiges und deshalb verantwortliches Wesen immer auch über einen Spielraum der Freiheit verfügt. Er kann die Beziehung zu sich als einem partiell psychisch Gestörten verschieden gestalten. Ausdruck der diesbezüglichen Gestaltung ist die Einstellung, die er zu seiner Psychose hat. Diese Einstellung kann bekömmlich sein. Sie kann völlig kontraproduktiv sein. Ist sie dies, ist Einstellungsmodulation angezeigt. Die Fähigkeit, Einstellungen als bekömmlich oder unbekömmlich zu durchschauen und durch bekömmliche zu ersetzen ist jedoch Ausdruck der geistigen Dimension des Menschen. Sie zeigt sich als „Auseinandersetzung des Menschlichen im Menschen mit dem Krankhaften in ihm.“ (Viktor Frankl, Ärztliche Seelsorge, Wien 1971, S. 211). Sie zum Zwecke der Bewältigung von Krankheit zu aktivieren ist ein ureigenstes Anliegen der Logotherapie.

Im Übrigen hat Frankl dasjenige betrieben, was er Existenzanalyse der Psychosen nennt. Ausgangspunkt dieser Analysen ist die Einsicht, dass psychotische Existenz eine besondere Form des Menschseins darstellt. Existenzanalyse in diesem Sinne ist Anthropologie der Psychose. So stellt Frankl im Blick auf den endogen Depressiven beispielsweise fest, dass er die jedes Menschsein kennzeichnende Differenz zwischen Sein und Sollen in übermächtiger Weise erlebt, woraus massive Schuldgefühle resultieren. Im Blick auf den Schizophrenen stellt er eine Ichstörung fest, welche sich als pathologisches Erlebnis des reinen Objektseins darstellt, aus der die Störung der Subjekthaftigkeit des Subjektes resultiert: Schizophrene erleben sich als gesucht, belauscht, gefilmt, ausgehorcht usf.

Anthropologische Analysen des psychotischen Menschseins sind in doppelter Hinsicht bedeutsam: Sie stellen die Grundlage für die Etablierung eines optimalen Arzt-Patienten-Bezugs dar. Das ist das eine. Und im Spiegel der Störung erscheint gesundes Menschsein besonders prägnant. Das ist das andere.

Forschungsperspektiven

Es muss die Frage gestellt werden, ob dasjenige, was Frankl als psychiatrisches Credo formuliert hat, auch naturwissenschaftlich haltbar ist. Bekanntlich neigen die meisten Gehirnforscher zur monistischen Hypothese. Das heißt: Das Gehirn wird als Organ begriffen, welches Geist erzeugt. Einige wenige, aber sehr bedeutende Forscher gehen davon aus, dass der dualistischen Hypothese die größere Wahrscheinlichkeit zukommt. Das heißt: Sie begreifen – wie Frankl – das Geistige selbst als etwas, das eine eigene Existenz außerhalb des Gehirns hat. Ihnen zufolge produziert das Gehirn nicht das Selbst. Es ist vielmehr umgekehrt: Das Selbst wird unter dem Aspekt seiner Herrschaft über das Gehirn beschrieben. (Vgl. dazu beispielsweise J. C. Eccles, Wie das Selbst sein Gehirn steuert, Berlin 1994.) Die entsprechenden Forschungen bewegen sich auf der Grenze von Biologie, Quantenphysik, Philosophie und Psychologie. Spannend zu sehen, ob Frankls psychiatrisches Credo in fortschreitendem Maße naturwissenschaftlich abgestützt werden wird oder nicht. Und natürlich sind weder die Frage nach einer optimalen Arzt-Patienten-Beziehung im Blick auf den Umgang mit psychotisch gestörten Menschen noch die Frage des optimalen Umgangs psychotischer Mensch mit sich selbst völlig ausdiskutiert.


Es gibt nichts auf der Welt, das einen Menschen so sehr befähigte, äußere Schwierigkeiten und innere Beschwerden zu überwinden, als das Bewusstsein, eine Aufgabe im Leben zu haben.

Viktor Frankl

Tübingen Merian