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Logotherapie und die Arbeitswelt

 

Sinn erschließt sich in Sinn-Zusammenhängen. Das ist schon im hermeneutischen Kontext so: Der Sinn eines Wortes erschließt sich im Zusammenhang eines Satzes. Der Sinn eines Satzes im Zusammenhang eines Aufsatzes usf. Das gilt aber auch für den Kontext von Unternehmen und Institutionen: Wir machen Sinnerfahrungen und die Erfahrung von Un-Sinn in sozialen Zusammenhängen. Im Zusammenhang der Familie. Im Zusammenhang der Schule. Und natürlich auch im Zusammenhang der Arbeitswelt. Die Erfahrungen von Sinn und Widersinn im Kontext von Unternehmen sind aus zwei Gründen besonders wichtig. Zum einen, weil wir dort sehr viel Lebenszeit – eine nicht regenerierbare und deshalb immer wertvoller werdende Ressource – verbringen. Zum andern, weil wir Teile unserer Identität in Institutionen ausbilden und grundlegende Sinnmöglichkeiten an diesen Aspekt der Identität gebunden erlebt werden. Gerade für die Menschen der hochindustrialisierten Gesellschaften ist die berufliche Identität entscheidend für die Erfahrung von Sinn. Eine sinnvolle Arbeit zu haben wird von diesen Menschen als eminent wichtig erlebt. Arbeit zu verlieren aus diesem Grunde nicht selten als persönliche Katastrophe.

Die Sinnproblematik spielt im Blick auf ein Unternehmen in vielerlei Hinsicht eine wichtige Rolle. Am Anfang einer Unternehmensgründung steht immer eine Idee, gleichgültig ob ein spezifisches Produkt oder eine besondere Dienstleistung angeboten werden soll. Die Realisierung dieser Idee stellt den „Sinn“ des Unternehmens dar und ist Ausdruck der Wertvorstellungen der unternehmenden Subjekte. Um die Unternehmensidee zu realisieren, bedarf es jedoch der Mitarbeiter, die ihre je eigenen Sinn-Vorstellungen in Form von Lebensentwürfen in sich tragen. Daraus ergibt sich die logotherapeutische Frage, wie man das Zusammenspiel von Führungspersönlichkeiten und Mitarbeitern im System „Betrieb“ sinnvoll organisieren kann; und zwar unter der Maßgabe, dass alle am System beteiligten Subjekte in ihrer Grundmotivation vom „Willen zum Sinn“ bestimmt sind, aber u.U. verschiedene Sinn-Vorstellungen haben. Das Zusammenspiel ist optimal, sofern sie ihr Wirken und Zusammenwirken im Unternehmen nicht nur kurzfristig und partiell, vielmehr langfristig und im Ganzen als sinnvoll erleben. Dies ist der Fall, sofern die beteiligten Subjekte erfahren, dass sie sich im Kontext des Unternehmens persönlich entwickeln können, indem sie ein Produkt oder eine Dienstleistung anbieten, das bzw. die sie als wertvoll für sich und andere erleben. Das heißt: Zum einen muss man wahrnehmen, dass mit der Dienstleistung, die man anbietet, oder mit dem Produkt, das man vertreibt, der Gesellschaft ein wirklicher Dienst erwiesen wird. Zum andern muss man wahrnehmen, dass man im Zuge der Produktion von Waren oder im Vollzug von Dienstleistungen die je eigene Persönlichkeit entwickeln kann. Das Bedürfnis zu wachsen und sich zu entwickeln ist ein Bedürfnis des Menschen, das allen Detailbedürfnissen zugrunde liegt: dem Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle. Dem Bindungsbedürfnis. Dem Lustgewinn und Schmerzvermeidungsbedürfnis. Dem Selbstwerterhöhungsbedürfnis. Dem Explorationsbedürfnis.

Die wichtigste Ressource eines Unternehmens sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Soll eine Unternehmensidee Erfolg haben, dann müssen die Mitarbeiter motiviert sein, die ihnen möglichen Höchstleistungen zu erbringen. Sie sind motiviert, wenn sie im Betrieb erleben, dass ihren Sinn-Vorstellungen entsprochen wird. Dabei machen sie potentiell Sinnerfahrungen im Prinzip auf zwei Grundebenen und einer Metaebene: auf der Inhaltsebene und auf der Beziehungsebene. Und im Blick auf das Zusammenspiel von Beziehungsebene und Inhaltsebene in der Dimension der Entwicklung ihrer Persönlichkeit. Die Inhaltsebene bezieht sich auf das Produkt und die Dienstleistung eines Unternehmens. Die Beziehungsebene bezieht sich auf die Mitmenschen im Betrieb. Und natürlich macht man potentiell eine Fülle von Sinnerfahrungen im Umgang von Kollegen oder im Anfertigen von Dingen oder im Offerieren von Diensten. Entscheidend aber ist, dass man im differenzierten Zusammenspiel von Interaktion und Produktion, indem man mitspielt, wahrnehmen kann, dass man sich persönlich weiterentwickelt und in diesem Sinne wächst und reift. Denn dies ist die entscheidende Erfahrung von Sinn.

Im Übrigen ist logotherapeutisches Denken im Unternehmen in einer Fülle von weiteren Perspektiven wichtig. Zwei seien hervorgehoben. Zum einen sollten die Personen an der Spitze eines Unternehmens präzise zwischen Führung und Management unterscheiden. Führung ist im Prinzip sinnorientiert. Wer ein Unternehmen führt, muss für das Angebot begeistern können. Und zwar so begeistern können, dass der Mitarbeiter seinen Beitrag zur Erstellung eines Produkts oder zu einer Dienstleistung als sinnvoll erlebt. Erlebt er ihn so, dann ist er motiviert, eine entsprechende Leistung zu erbringen. Führung ist demzufolge motivationsorientiert. Sie wirbt dafür, sich für gemeinsame wertvolle Unternehmensziele einzusetzen. Sie erklärt die Sinn-Ziele des Unternehmens. Sie überzeugt, dass es sich lohnt, diese Ziele zu verfolgen. Sie stellt sich auf die Mitarbeiter so ein, dass sie sich mit den Unternehmenszielen identifizieren können.

Ist Führung im Prinzip sinnorientiert, so ist Management im Prinzip zweckorientiert. Um sinnvolle Ziele zu erreichen, muss man ein System von zweckvollen Arbeitsgängen organisieren. Aufgabe des Managements ist es, einen optimalen Weg zu finden, ein vorgegebenes Ziel zu erreichen. Die einzelnen Etappen dieses Weges sind die aufeinander zu beziehenden Zwecke, um eine Zielvorstellung zu verwirklichen. Gründet jemand beispielsweise einen Verlag mit dem Ziel, relativ unbekannte Literatur, die ihm wertvoll erscheint, einem breiten Publikum zu vermitteln, dann genügt es nicht, dieses Ziel zu haben. Er muss vielmehr ein Lektorat, eine Druckerei, eine Werbeabteilung, einen Vertrieb u.v.a. etablieren, um den Sinn des Unternehmens zu verwirklichen. Die genannten Teilelemente des Verlags haben den Zweck, dem Unternehmensziel zu dienen. Die in den Subsystemen des Verlags beschäftigten Personen werden allerdings ihr Leistungspotential nur dann in den Dienst des Unternehmens stellen, wenn sie ihre Idee von einem sinnvollen Leben mit der Leitidee des Unternehmens in Einklang bringen können. Oder einfach: Sie müssen sich mit dem Sinn des Unternehmens identifizieren können. Dies ist nur dann der Fall, wenn sie zumindest einen Teil ihrer Vorstellung vom sinnvollen Leben im Kontext des betrieblichen Systems zu aktualisieren in der Lage sind.

Forschungsperspektiven

Unternehmen sind darauf hin zu prüfen, ob und wie sie der Grundmotivation aller Beteiligten, welche eben im „Willen zum Sinn“ auf den Begriff kommt, entsprechen bzw. widersprechen. Was getan werden muss, um den Einzelnen so ins betriebliche System zu integrieren, dass er sich so entwickeln kann, dass er das „Glück“ persönlichen Wachstums erlebt und zugleich etwas zur Erhaltung und Weiterentwicklung des Unternehmens beiträgt. Insbesondere ist das Augenmerk auf das sinnvolle Zusammenwirken von Mitarbeitern in Arbeitsgruppen zu richten. Entscheidend ist nicht allein die individuelle Ausstattung eines Mitarbeiters, vielmehr die optimale Passung im Kontext der Gruppe. Zu erforschen ist, wie eine Gruppe sinnvollerweise personell zusammengesetzt sein sollte, um hocheffektiv im Blick auf ein Unternehmensziel zusammenzuwirken. Es gibt Menschen, die genaue Arbeitsanweisungen brauchen, dann aber höchst exakt agieren. Es gibt Menschen, die quer zum vorgegebenen Unternehmen denken, exzellente Ideen für die Zukunft entwickeln, aber für die tägliche Routine zur Erhaltung eines Betriebs weitgehend ungeeignet sind. Es gibt Menschen, die mit Menschen sehr gut umgehen können, aber in der Sache nicht selten Fehler machen. Es gibt Menschen, die über eine hohe Sachkompetenz verfügen, denen es aber an sozialer Kompetenz mangelt. Es ergibt sich die Frage, wie man sinnvollerweise eine Gruppe zusammenstellen sollte, sodass die beteiligten Personen Sinn in optimaler Weise zusammen realisieren. Kollegen sollten dies wahrnehmen: Wir brauchen uns, weil wir uns ergänzen. Weil wir uns ergänzen, schätzen wir uns gegenseitig. Indem wir unsere Schwächen gegenseitig ausgleichen und uns in unseren Stärken potenzieren, realisieren wir die uns verbindenden Ziele optimal.


Wenn wir nicht länger in der Lage sind, eine Situation zu ändern, sind wir gefordert, uns selbst zu ändern.”

Viktor Frankl

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