Logotherapie und Theologie

 

Es gibt eine Affinität zwischen Logotherapie und Theologie. Sie liegt im beidseitigen Interesse an der Sinn-Kategorie. Die Sinnfrage ist zwar nicht identisch mit der Gottesfrage. Treibt man die Sinnfrage jedoch immer weiter voran, dann mündet sie in die Gottesfrage. Frankl zufolge kann Sinn durch Arbeit realisiert werden. Das anthropologische Symbol dieser Sinndimension ist der homo faber, der arbeitende Mensch. Prinzip dieser Dimension ist Produktivität. Sinn kann aber auch durch Erlebnis verwirklicht werden. Durchs Erlebnis des Schönen in Natur und Kunst. Durchs Erlebnis der Einzigartigkeit eines Menschen, den ich liebe, in besonderer Weise. Deshalb ordnet Frankl dieser Sinndimension das anthropologische Symbol des homo amans, des liebenden Menschen, zu. Prinzip dieser Dimension ist Rezeptivität. Und Sinn kann realisiert werden durch die Weise, wie ein Mensch sein Schicksal durchsteht. Menschen geraten immer wieder in Grenzsituationen, wenn sie leiden müssen, wenn sie kämpfen müssen, wenn sie sterben müssen. Dann stellt sich die Frage, ob der Mensch auch in Grenzsituationen dem Leben Sinn abgewinnen kann; z. B. wenn er irreparable Schicksalsschläge hinnehmen muss. Frankl zufolge kann er es nicht nur. Er kann in solchen Situationen dem Leben vielmehr den größtmöglichen Sinn abtrotzen. Nämlich in der Weise und durch die Weise, wie er sein Geschick trägt und verarbeitet. Wenn äußerlich nichts mehr zu machen ist, kann man ein übles Geschick u. U. dennoch innerlich bewältigen. Sinn in dieser Dimension wird durch eine humane Einstellung verwirklicht. Das zugeordnete anthropologische Symbol ist der homo patiens, der leidende Mensch. Prinzip dieser Dimension ist Habitus, Haltung.

Die drei Sinndimensionen – verbunden mit schöpferischen Werten, Erlebniswerten, Einstellungswerten – können von jedermann realisiert werden. Ihr Prinzip ist Arbeit. Humane Einstellungen kann man sich erarbeiten. Eine differenzierte Erlebnisfähigkeit muss man sich erarbeiten. Und schöpferische Tätigkeit ist natürlicherweise mit Arbeit verbunden. Aber es gibt auch Sinnerfahrungen, die nicht erarbeitet werden können, die vielmehr donativen Charakter haben. Ereignen sie sich, dann ereignen sie sich geschenkweise. Mit ihnen befasst sich die Theologie. Worum handelt es sich?

Der Mensch fragt nach den äußersten Grenzen, den Tiefen und den Höhen seines Lebens. Woher komme ich ursprünglich? Was ist der innere Grund dafür, dass ich bin? Wohin gehe ich letztlich, sollte ich den Tod durchschreiten? Was trägt im Leben, wenn nichts mehr trägt? Was gibt mir Kraft, Tiefenereignisse, die sich als Tiefenerlebnisse in mir spiegeln, zu durchstehen? Wie gehe ich mit den existentiellen Bestimmungsmerkmalen von Schuld, Entfremdung, Vergänglichkeit um? Was muss ich tun, wer soll ich sein, dass mein Leben, trotz allem, gelingt? Es handelt sich um Fragen nach existentieller Grundorientierung. Antwort-Angebote auf diese Fragen geben die Religionen. Die Ausarbeitung der entsprechenden Antworten betreibt Theologie. Wer die lebensfreundlichen Antworten der christlichen Religion annehmen und so für sich gültig setzen kann, versteht sich und sein Leben in besonderer Weise: Er versteht sich als Geschöpf Gottes (kosmologischer Aspekt). Vom Grund des Seins entfremdet (hamartiologischer Aspekt). Durch Jesus Christus versöhnt und eingeladen, sich in den Prozess des Reiches Gottes einzugliedern (soteriologisch-christologischer Aspekt). Teilhaber am unvergänglichen Leben schon jetzt und in Erwartung der endgültigen Erfüllung der je eigenen Person und der Geschichte im Ganzen (eschatologischer Aspekt).

Zum Wesen des Menschen gehört die theoretische und praktische Intentionalität. Der Mensch hat das Bedürfnis, sich, sein Leben, die Welt zu verstehen. Erst dann kann er Leben bestehen. Es gibt eine Korrespondenz zwischen dem Reim, den er sich aufs Leben macht, und der Weise, wie er Leben gestaltet. Es gibt eine Korrespondenz zwischen der Religion, deren Welt- und Existenz-Interpretation ich teile, und der Weise, wie ich mit dem Leben umgehe. Sinnvolle Auslegung von Existenz im Blick auf einen letzten Grund des Seins (Gott) produziert man nicht. Man lässt sich von ihr betreffen, berühren, bestimmen. Oder anders: Glaube hat den Charakter des Geschenks.

Forschungsperspektiven

Zu klären ist das Verhältnis zwischen den drei Franklschen Sinndimensionen und den theologischen Sinndimensionen. Also: den Sinndimensionen, in denen der Mensch wirkt, und den Sinndimensionen, die ihm im Glauben „aufgehen“; im Sinne eines lebensfreundlichen Systems der Orientierung im Blick auf existentielle Grundfragen. Zu klären wäre auch das Verhältnis von innerweltlichen und transzendenten Sinnerfahrungen. Es könnte sein, dass die vorläufigen Sinnerfahrungen hier, die „kleinen“ Sinnerfahrungen in der Perspektive des Glaubenden symbolischer Natur sind. Also Verweis- und Repräsentanzcharakter haben. Soll heißen: auf letztgültige Sinnerfahrungen hinweisen und sie vergegenwärtigen. Das diesbezügliche Verhältnis wäre zu klären.


„Ich muss mir nicht alles von mir selber gefallen lassen.

Viktor Frankl

Neckarfront im Wasser