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Logotherapie und Philosophie / Ethik

 

Es gibt eine unmittelbare Affinität zwischen Logotherapie und Philosophie. Dies hängt zum einen am Sinnbegriff, zum anderen am Sachverhalt, dass Frankl sein logotherapeutisches Konzept unter Berücksichtigung materialethischer Gedanken von Nicolai Hartmann und Max Scheler entworfen hat. Die Sinn-Kategorie ist u.a. auch eine philosophische Grundkategorie, und die Frage nach dem Sinn des Lebens eine philosophische Grundfrage. Sie mag in der Antike in einer anderen Form gestellt worden sein; z.B. als Frage nach dem Guten oder als Frage nach dem Glück. Als Frage nach dem Gelingen und Scheitern menschlichen Lebens begleitet sie den Menschen durch die Geschichte hindurch. Allerdings ist „Sinn“ ein semantisches Chamäleon. Unter Sinn kann man ein Organ sinnlicher Wahrnehmung verstehen: den Lichtsinn oder Gehörsinn zum Beispiel. Man kann darunter auch die Bedeutung von Zeichen und Symbolen verstehen oder ein Handlungsziel im Sinne eines Zwecks. Man kann darunter auch Funktion verstehen; die Funktion eines Amtes oder eines Organs innerhalb eines Organismus zum Beispiel. Man kann Sinn auch als Gesamtzusammenhang der Wirklichkeit begreifen, von dem her das einzelne seine Bedeutung gewinnt. Oder als das Wertvolle im Sinne des Schönen, Guten oder Heiligen. Oder als das, was Leben lebenswert macht und somit Leben lohnt. Oder gar als das, was die Sinnhaftigkeit der Existenz letztlich garantiert und von der Theologie in der Chiffre „Gott“ zum Ausdruck gebracht wird. Entscheidend ist, dass das Gespräch zwischen Logotherapie und Philosophie weitergeführt wird. Einmal um der begrifflichen Klarheit willen. Dann, um philosophische Weisen, Sinn zu verstehen, für die Weiterentwicklung der Logotherapie fruchtbar zu machen. Vor allem aber, um sich der der Logotherapie zugrunde liegenden Anthropologie zu vergewissern. Jedem psychotherapeutischen Konzept liegt ein Bild vom Menschen zugrunde. Es stellt sich die Frage, ob der Therapeut sich des Menschenbildes derjenigen Schule, der er sich verpflichtet weiß, voll bewusst ist. Er sollte es sein, weil das jeweilige Bild vom Menschen das entscheidende Steuerungselement therapeutischen Handelns darstellt. Verantwortliche Therapie ist ohne Reflexion der dahinterstehenden Anthropologie nicht möglich. Außerdem sollte der Therapeut in der Lage sein, mit dem Patienten zu philosophieren. Dies leuchtet unmittelbar ein, wenn man den Fundamentalsatz der Psychologie entschlüsselt. Er lautet: Das Prinzip der Psyche ist Intentionalität.

Das heißt: Das Menschsein des Menschen zeigt sich in dem, was das Subjekt erstrebt. Oder einfacher: Nenn’ mir die Ziele, die du verfolgst, und ich sage dir, wer du bist. Das Gelingen menschlichen Lebens hängt nun allerdings nicht allein daran, dass Ziele, die sich der Mensch setzt, auch erreicht werden. Es hängt vorrangig daran, dass es sich um „wahre Ziele“ handelt. Natürlich wird ein Ziel, das sich ein Mensch setzt, von ihm zunächst als sinnvoll erlebt. Der Mensch ist nicht in der Lage, sich bei vollem Bewusstsein widersinnige Ziele zu setzen. Dennoch sind das Setzen eines Ziels und das Gefühl der Sinnhaftigkeit des Ziels noch keine Garanten dafür, dass es sich um wirklich sinnvolle Ziele handelt. Aus diesem Grunde genügt es nicht, lediglich die Lebensziele eines Patienten wahrzunehmen und ihn dabei zu unterstützen, diese Ziele auch zu realisieren. Es muss vielmehr vom Therapeuten ein philosophisch verantwortetes Gespräch angeregt werden, das den Patienten anleitet, seine Lebensziele auf ihre Sinnhaftigkeit hin zu prüfen. Das ihn anleitet, einen optimalen Lebensentwurf auszubilden. Und dies auf der Basis eines Wissens allgemeinphilosophischer und speziell ethischer Herkunft. Denn gerade die Philosophie als Theorie der Lebenskunst birgt eine Fülle von Wissen bzgl. dessen, „wie menschliches Leben geht“ bzw. „wie menschliches Leben nicht geht“. Dieses Wissen für die Psychotherapie fruchtbar zu machen ist ein Gebot der Stunde. Oder anders: Ein Therapeut, der kein Philosoph ist, ist nur ein halber Therapeut.

Forschungsperspektiven

Es gilt, Techniken der praktisch-philosophischen Gesprächsführung für die logotherapeutische Intervention fruchtbar zu machen. Die Erkenntnisse der Praktischen Philosophie in Geschichte und Gegenwart zu rekonstruieren, vor allem auch diejenigen, die unter dem Titel „Philosophie der Lebenskunst“ publiziert wurden, und für die Logotherapie zu verwerten. Außerdem ist die Sinn-Kategorie, der zentrale Begriff der Logotherapie, im Horizont dessen zu präzisieren, was Philosophie unter „Sinn“ verstand und versteht.


Für gewöhnlich sieht der Mensch nur das Stoppelfeld der Vergänglichkeit. Was er übersieht, sind die vollen Scheunen der Vergangenheit.

Viktor Frankl

Tübingen Neckarfront