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Logotherapie und Allgemeinpädagogik

 

Wenn es der Wahrheit entspricht, dass der Mensch im Prinzip dasjenige Wesen ist, das sein Leben sinnvoll gestalten und als sinnvoll erleben will, dann ist im Blick auf die Erziehungsinstitutionen zu fragen, ob und wie sie diesem anthropologischen Grundsachverhalt gerecht werden. Im Blick auf die Schulen wäre zu fragen, ob und wie sie es ermöglichen, dass sowohl Schüler als auch Lehrer in genügendem Maße Sinnerfahrungen machen. Eine nicht regenerierbare und deshalb immer wertvoller werdende Ressource ist Lebenszeit. In unseren Schulen beanspruchen wir einen Großteil der Lebenszeit junger Menschen. Verantwortlich mit der Zeit von Schülern und Lehrern umzugehen bedeutet, ihnen Gelegenheit zu geben, Leben in der Schul-Zeit sinnvoll zu gestalten. Die mögliche Sinnhaftigkeit oder auch Widersinnigkeit von Schule hängt an den Grund-Zielen, die sie verfolgt; zum Beispiel am Leben-Lehren. An der Binnenorganisation der Schule und ihrer Eignung, dieses Grundziel auch zu erreichen. An den Stoffen, die vermittelt werden. An der Art, wie sie vermittelt werden. An der Weise, wie die zwischenmenschlichen Beziehungen in der Institution Schule gestaltet werden.

Schule soll Leben lehren. Lehrer sollen jungen Menschen diejenigen Kompetenzen vermitteln, die es ihnen erlauben, in der Welt als ihrem Leben gewährenden Raum ein Leben zu führen, das sie als sinnvoll empfinden. Dabei geht es um die wechselseitige Bewahrung. Die Welt gilt es zu bewahren, damit der Mensch zu seiner Wahrheit komme. Den Menschen gilt es zu bewahren, damit die Welt zu ihrer Wahrheit komme. Die Wahrheit von Mensch und Welt aber ist ihre jeweilige Bestimmung: nämlich diejenigen Lebensmöglichkeiten zu aktualisieren, die das je eigene Leben als sinnvoll erfahren lassen, weil sie zugleich etwas zur Erhaltung, Entfaltung und Steigerung anderen Lebens beitragen. Wir wollen eine Welt, die dem Menschen Leben gewährt, indem sie als Grundlage der Erhaltung, Entfaltung und Steigerung menschlichen Lebens dient. Und wir wollen einen Menschen, der die Welt nicht nur um seinetwillen, vielmehr auch um ihretwillen bewahrt, weil er sie in ihrer Zartheit, Schönheit, Eigenwilligkeit und in ihrem Zauber als Subjekt erlebt. Etwas als Subjekt zu erleben aber bedeutet, es als dem willkürlichen Zugriff entzogen zu erleben. Wer in dieser Beziehung dennoch Willkür walten lässt, zerstört sich letztlich selbst.

Will Schule ihrem vornehmsten Auftrag, nämlich Leben zu lehren, gerecht werden, dann wird sie heute diesen Auftrag in Korrespondenz zur Grundaufgabe der gegenwärtigen Menschheit formulieren und erfüllen müssen: nämlich zur Aufgabe der Eroberung einer menschenwürdigen Zukunft. Jedem Schüler müsste die Grundaufgabe, um deretwillen er eine Schule besucht und um deretwillen er die mit Lernen verbundene Anstrengung auf sich nimmt, voll bewusst sein. Er müsste wissen, dass er in einer Welt lebt, von der er lebt. Er müsste wissen, dass diese Welt in vielfältiger Weise bedroht ist und mit ihr die Menschheit und mit ihr er selbst. Er sollte aber erleben, dass die Gesellschaft im Mittel ihrer Schulen Institutionen bereitstellt, in denen diejenigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden, die geeignet sind, die destruktiven Entwicklungen zu durchschauen und die Bewahrung der Welt zu ermöglichen. Der Grund-Sinn von Schule wäre demzufolge Welt-Bewahrung zum Zwecke der Eroberung einer menschenwürdigen Zukunft. Die Schule bedarf demzufolge heute der kosmopolitisch-ökologischen Grundlegung. Schule hätte nun eine jedermann unmittelbar einleuchtende Grundaufgabe. Und die Identifikation des Subjektes mit dieser Aufgabe wäre angesichts der Weltlage dringend notwendig und in diesem Sinne objektiv wertvoll. Das ist das eine. Zum andern gewährt die individuelle Wahrnehmung einer objektiv wertvollen Aufgabe auf der Seite des Subjektes Sinnerfüllung. Ist der Mensch seiner Essenz nach ein Wesen auf der Suche nach Sinn, dann sollte ihn vor allem die Schule, die ihm ja beim Erwerb der Kompetenz zu wesentlichem Menschsein helfen müsste, als sinnorientiertes Wesen wahrnehmen. Müdigkeit, Interesselosigkeit, ja die totale Verweigerung, Flucht in die Subkultur, Flucht in die Droge, Flucht in die Aggression sind nur zu verständlich angesichts der Ohnmacht, Angst und Hoffnungslosigkeit, in die man die jungen Menschen treibt, sofern man ihnen die Zeit stiehlt, die sie dringend bräuchten, um diejenigen inneren und äußeren, intellektuellen, handlungsmäßigen, charakterlichen und einstellungsmäßigen Kompetenzen zu erwerben, die sie zur Eroberung ihrer lebenswerten Zukunft benötigen.

Es ist merkwürdig, dass wir auf der einen Seite eine faszinierende Welt vorfinden: geheimnisvoll darin, dass sie ist. Erhaben in ihren Naturphänomenen. Schön in ihrer Vielfalt an Materialien, Gestalten, Formen, Farben. Ästhetisch in ihrer Struktur. Höchst gefährdet durch den vom Menschen geschaffenen künstlichen Kosmos. Gekennzeichnet durch eine Fülle faszinierender kultureller Ausdrucksformen. Und auf der anderen Seite zum Teil gelangweilte, desinteressierte, aggressive, rauschgiftsüchtige, nihilistische, denkfaule, gefühllose Jugendliche und Erwachsene. Zu fragen ist, was die Bildungsinstitutionen tun, um den jungen Menschen für die Faszination, den Zauber, das Geheimnis, die Ästhetik, die Zusammenhänge der Welt zu erschließen. Was sie tun, um den jungen Menschen ein lebendiges Gefühl für die Wert- und Sinnhaftigkeit der Welt in ihrer Ganzheit und in der Fülle ihrer Einzelphänomene zu vermitteln.

Im Übrigen könnte das jedermann einleuchtende Grundziel der Schule, nämlich alle Anstrengung auf den Gewinn von Zukunft zu richten und die einzelnen Fächer vorrangig unter diesem Aspekt zu unterrichten, zu einer eminenten Verlebendigung des Schullebens führen. Die Erfahrung, eine zwar schwere, aber lohnende Aufgabe übernommen zu haben. Die Erfahrung, nicht nur verantwortlich zu sein, dieser Verantwortung vielmehr auch durch Arbeit zu entsprechen. Die Erfahrung, nicht Vielerlei und Zusammenhangloses, vielmehr Vieles im Hinblick auf ein wesentliches Ziel zu tun. Die Erfahrung, nicht nur allein für sich, sondern auch für die anderen, nicht allein für die Gegenwart, vielmehr auch für die Zukunft zu arbeiten – diese Erfahrungen sind tragende Sinn-Erfahrungen.

Forschungsperspektiven

Die kosmopolitisch-ökologische Begründung der Schule im Blick auf die Aufgabe: Junge Menschen fit zu machen, eine menschenwürdige Zukunft zu erobern, und zwar so zu erobern, dass ihr gegenwärtiges Leben schon jetzt als sinnvoll erlebt wird, erfordert die Erstellung neuer Curricula. Die Stoffe der geisteswissenschaftlichen, der natur- und sozialwissenschaftlichen Fächer müssten unter diesen leitenden Gesichtspunkten aufgeschlüsselt und neu zusammengestellt werden. Es müsste eine Theorie der Erziehung unter dem Aspekt der Globalisierung der Welt entworfen werden.


Menschliches Verhalten wird nicht von Bedingungen diktiert, die der Mensch antrifft, sondern von Entscheidungen, die er selber trifft.

Viktor Frankl

Hundertwasserhaus in Wien