Logotherapie und allgemeine Psychotherapie
Der Begriff der „Allgemeinen Psychotherapie“ ist vorrangig mit dem Namen Klaus Grawe verbunden. Sein Konzept ist zum einen deshalb so wichtig, weil es sich auf empirische Psychotherapie-Forschung stützt und zum andern, weil es konsequent die Kluft zwischen der wissenschaftlichen Psychologie und der Psychotherapie zu schließen unternimmt. Grawe u.a. haben 1994 einen umfassenden Forschungsbericht vorgelegt. Er hat den bezeichnenden Titel „Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession“. In diesem Rahmen verfolgt er das Ziel, alle bis 1984 „je durchgeführten kontrollierten Psychotherapiestudien vollständig zu berücksichtigen.“(a. a. O, S. 31); 938 an der Zahl. Und dies, um die jeden Therapeuten brennend interessierende Frage zu lösen: Welche Therapien wirken wirklich? Nachdem Grawe herausgefunden hat, welche Therapien nun wirklich wirken – und dies heißt immer: möglichst schnell und möglichst nachhaltig –, entwirft er sein eigenes Konzept psychotherapeutischer Intervention. Zunächst sehr komprimiert im Schlusskapitel seiner großen empirischen Untersuchung und vier Jahre später in einer eigenen Monographie unter dem Titel „Psychologische Therapie“. Im Rahmen dieser Schrift zieht er nicht nur Konsequenzen aus seinen empirischen Erkenntnissen. Er unternimmt vielmehr zusätzlich den Versuch, möglichst viele psycho-therapierelevante Einsichten der wissenschaftlichen Psychologie für sein psychotherapeutisches Konzept fruchtbar zu machen. Grawe zufolge ist es an der Zeit, die schul-spezifische Orientierung der Psychotherapie zu überwinden. Einmal abgesehen davon, dass eine Reihe von Schulen den Nachweis ihrer Wirksamkeit bisher schuldig geblieben ist, liegt es auf der Hand, möglichst alle nachweislich wirksam arbeitenden Schulen für die Psychotherapie fruchtbar zu machen. Den Erkenntnisreichtum möglichst aller nachweislich wirksamen Interventionsformen zu nutzen liegt Grawe zufolge in der Logik der Sache. Ihm zufolge ist die Psychotherapie der Zukunft schulübergreifend. Und in dem, was er als sein psychotherapeutisches Konzept vorlegt, hat die Zukunft gewissermaßen schon begonnen. Das Konzept nennt er, bezeichnenderweise, „Allgemeine Psychotherapie“. Prinzip dieser Psychotherapie ist Integration. Und das Erkenntnisinteresse, das diese Psychotherapie leitet, wird von einer einfachen Frage bestimmt. Sie lautet: Welche psychische Störung kann nachweislich mit welcher Interventionsform in möglichst kurzer Zeit möglichst nachhaltig behoben werden? Dabei ist es völlig gleichgültig, ob die Interventionsform tiefenpsychologischer, verhaltenstherapeutischer, klientenzentrierter, logotherapeutischer Art ist oder aus einer mehr oder minder orchideenhaften Ecke der Psychotherapie stammt. Entscheidend ist die nachgewiesene Wirksamkeit. Daraus nun den Schluss zu ziehen, „Allgemeine Psychotherapie“ sei im Prinzip lediglich ein Zuordnungsvorgang zwischen Störung und optimaler Entstörung ist allerdings falsch. Vielmehr geht es Grawe darum, die relevanten Psychotherapiekonzepte zu durchschauen; und zwar auf die sie konstituierenden Wirksamkeitsfaktoren hin. Das ist das eine. Und sie im Horizont wissenschaftlicher Psychologie in ihrer spezifischen Wirksamkeit verstehbar zu machen. Das ist das andere. Im Zuge dieses Vorhabens gelangt er zu psychotherapeutischen Prinzipien fundamentaler Art. Prinzipien, die wissenschaftlich fundierte Psychotherapie leiten.
Die Erkenntnisse der empirisch fundierten Allgemeinen Psychotherapie stellen z. Zt. die große Herausforderung an alle Psychotherapie-Schulen dar. Die Forderung Grawes an die einzelnen Schulen, den Nachweis ihrer Wirksamkeit zu erbringen und nicht mehr allein schulzentriert, vielmehr schulübergreifend, integrierte Psychotherapie zu betreiben, ist legitim und im Blick auf das Recht des Patienten unabdingbar. Die völlige Auflösung der Schulen ist allerdings nicht nur illusionär, vielmehr auch nicht wünschenswert. Vor allem deshalb nicht, weil die Grundmaximen einer Schule und die Persönlichkeitsstruktur desjenigen Menschen, der sich in einer Psychotherapie-Schule ausbilden lässt, zusammenstimmen müssen. Oder anders: Der psychotherapeutisch Auszubildende soll in der Schule, in der er sich ausbilden lässt, auch eine geistige Heimat finden. Das schließt nicht aus, vielmehr ein, dass er nicht nur seinen menschlichen, vielmehr auch seinen therapeutischen Horizont ständig erweitert.
Die logotherapeutische Auseinandersetzung mit dem Entwurf Grawes wird zu dreierlei führen: zur Bestätigung der logotherapeutischen Grundpositionen. Das ist das eine. Zur Weiterentwicklung der Logotherapie. Das ist das zweite. Und zur Kritik der psychologischen Therapie Grawes. Das ist das dritte. Alle drei Aspekte sollen in den folgenden Thesen zur Sprache kommen:
- Den Menschen als sinnorientiertes Wesen aufzufassen, als intentionales Wesen, das die Welt so (um)gestalten möchte, dass es Wahrnehmungen im Sinne seiner sinnvollen Ziele machen kann, ist offensichtlich in empirischer Perspektive goldrichtig. Damit wird die Logotherapie im Prinzip uneingeschränkt bestätigt.
- Frankls Grundabsicht, den Patienten zu aktivieren, auch in Grenzsituationen, entspricht ganz und gar dem Sachverhalt, dass die Lebendigkeit des Menschen an seine Intentionalität gebunden ist. Wer nichts mehr will, wer im Grenzfalle sein Schicksal, das äußerlich nicht mehr zu bewältigen ist, auch innerlich nicht mehr bewältigen will, ist unlebendig mitten im Leben.
- Doppeltorientiert zu arbeiten, also klärungsorientiert und störungsorientiert, ist Voraussetzung für hohe Effektivität. Logotherapie tut dies. Wenn es um die Entdeckung von Sinnmöglichkeiten geht, arbeitet sie klärungsorientiert. Wenn es beispielsweise um Angst, Zwangsneurosen oder Phobien geht, arbeitet sie störungsorientiert.
Die Wahrnehmung der individuellen, positiven Ausstattung und Absichtlichkeit eines Menschen ist das Markenzeichen der Logotherapie. In ihrem Zentrum steht die Sinn-Kategorie. Eine positive Kategorie. Das aber heißt: Der Mensch wird vorrangig unter dem Aspekt des Gelingens, nicht unter dem Aspekt des Verunglückens, also nicht vorrangig unter pathologischem Aspekt wahrgenommen. Dies ist in empirischer Hinsicht doppelt richtig: einmal im Blick auf die positive Erwartungsinduktion. Zum andern im Blick auf die eminente Bedeutung der Ressourcenorientierung (Sinnorientierung).
Im Übrigen sollte man nicht den Fehler begehen, das Konzept Grawes, nur weil es das Markenzeichen der Empirie im Schilde führt, für sakrosankt zu erklären. Es handelt sich um einen hochdifferenzierten psychotherapeutischen Entwurf und stellt eine glänzende wissenschaftliche Leistung dar. Das ist sicher. Dennoch ist eine Schwäche unübersehbar. Sie kommt im Begriff der „philosophischen Substanzlosigkeit“ auf den Begriff. Wenn es tatsächlich so ist, dass der Mensch unter dem Aspekt seiner Intentionalität ein sinnintentionales Wesen ist, und wenn es stimmt, dass das Glücken oder Verunglücken eines Menschenlebens an den wahren Zielen und Plänen und deren Durchführung hängt, dann genügt es nicht, sich lediglich im Rahmen komplementärer Gesprächsführung zu den positiven Lebenszielen eines Patienten in Beziehung zu setzen und ihn auf mögliche Unverträglichkeiten der Ziele aufmerksam zu machen. Es muss vielmehr im Gespräch mit dem Patienten über die innere Wahrheit seiner Ziele gesprochen werden. Das aber heißt, was ein Mensch aus seinem Leben macht, muss er verantworten. Das aber heißt, er muss einen überindividuellen Maßstab finden, in dessen Horizont er rechtfertigt, was er erzielt. Frankl hat für diese Problematik immer ein feines Empfinden gehabt. Er war in seinen jungen Jahren fasziniert von der materialen Wertethik eines Max Schelers und Nicolai Hartmanns. Die dort aufgeführten Werte wurden ihm zu Orientierungsleitlinien für die Sinnentdeckung im therapeutischen Prozess. Weder die Logotherapie noch die Allgemeine Psychotherapie sind an diese ethischen Konzepte gebunden. Aber sie sind dem ethischen Diskurs überhaupt verpflichtet. Welcher Herkunft auch immer. Und dies, weil die Ziele, die wir uns setzen, nicht nur dem psychologischen Maßstab der Konsistenz, vielmehr dem philosophischen Maßstab der Wahrheit entsprechen müssen. Was wir in der psychotherapeutischen Szene viel zu wenig finden, ist dies: Therapeuten, die mit ihren Patienten philosophieren. (Vgl. dazu das Buch: W. Kurz, Philosophie für helfende Berufe)
Forschungsperspektiven
Logotherapie muss nachhaltiger zur Kenntnis nehmen, dass jeder Mensch eine Reihe sinnvoller Ziele verfolgt. Sie können bewusst, halbbewusst, unbewusst sein. Die Frage nach der Ermöglichung von Konsistenz innerhalb der verschiedenen Ziele wurde m. W. im logotherapeutischen Bereich kaum gestellt. Daraus folgt, dass auch innerhalb der Logotherapie eine Gesprächsführung nötig ist, die an die unbewusste Dimension heranführt. Die Einübung der prozessorientierten Aktivierung würde sich anbieten. Außerdem: Psychotherapie ist ein vieldimensionales Geschehen. Die von Grawe aufgezeigten Perspektiven – die Klärungsperspektive, die Problembewältigungsperspektive, die Störungsperspektive, die Ressourcenperspektive – konstituieren das psychotherapeutische Feld im Ganzen. Zu fragen wäre, welche Perspektive im logotherapeutischen Bereich vorrangig, nachrangig oder gar nicht wahrgenommen wird. M.E. sollte im Blick auf die Störungsperspektive genau wahrgenommen werden, welche Formen der Entstörung nachweislich hocheffektiv sind. Welche Intervention die Logotherapie im konkreten Störfall anbietet. Und ob es im konkreten Fall angebracht ist, von anderen zu lernen. Diesbezüglicher Bedarf besteht sicher im Blick auf die Beziehungsperspektive.
Reizvoll wäre es natürlich auch, das schematheoretische Denken im logotherapeutischen Kontext zu betreiben. Die Differenziertheit der Sinnproblematik im Raum der Psyche könnte so aufgezeigt werden. Und dies zum einen unter dem Aspekt, dass Psyche jeweils von einer ganzen Anzahl von Schemata bestimmt wird. Zum anderen unter dem Aspekt, dass die Sinnproblematik durch jedes Einzelelement eines Schemas hindurchscheint. Man denke an die Schemakomponenten: Ziel, Plan, Handlung, Kognition, Situation.
„Es gibt etwas, das ihr mir nicht nehmen könnt: meine Freiheit, wie ich auf das, was ihr mir antut, reagiere.”