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Logotherapie als Religionspädagogik

 

Religion ist im Prinzip Interpretation menschlicher Existenz vor Gott. Religionspädagogik ist Theorie einer bestimmten Praxis: nämlich Theorie religiöser Erziehung. Sie ist an der Frage orientiert: Was muss man tun, um die lebensfreundlichen Auslegungen menschlicher Existenz vor Gott an die Menschen so zu vermitteln, dass sie sie verstehen? Dass sie von ihnen existentiell betroffen werden? Dass sie sie als Chance begreifen, ihr Leben im Blick auf die existentiellen Grundfragen als von Gott gewolltes, von Gott entfremdetes, von Gott erlöstes und von ihm getragenes, erfülltes und zu vollendendes Leben zu verstehen? Dass sie von dieser Leben eröffnenden Zusage berührt, ihr Leben annehmen und sinnvoll gestalten? Die Aufgabe, der sich Religionspädagogik verpflichtet weiß, ist in anthropologischer Perspektive an einer Notwendigkeit orientiert, die im Menschsein des Menschen verankert ist. „Jeder Mensch braucht, um Leben zu können, ein System der Orientierung und ein Objekt der Hingabe“ (E. Fromm). Er muss sich, um es sehr einfach zu sagen, einen Reim auf sein Leben machen. Und je nachdem, wie dieser Reim ausfällt, wird er sein Leben, das ihm ja nicht nur gegeben, vielmehr auch aufgegeben ist, begreifen. Worin der Mensch die besondere Aufgabe seines Lebens erfasst, hängt allerdings ganz entscheidend an der Weise, wie er sein Leben versteht. Verstehen und Bestehen, Theorie und Praxis, Orientierung und Hingabe sind wechselseitig aufeinander verwiesen.

In christlicher Perspektive sind die Leben schaffenden Interpretamente menschlicher Existenz vor Gott geschichtlich vermittelt. Sie finden sich in den Schriften des Alten und Neuen Testaments: in Erzählungen, in gesetzlichen, historischen und lyrischen Texten, in theologischer Briefliteratur zum Beispiel. Da sie aus einem historischen Kontext stammen, der dem modernen Menschen fremd ist, müssen sie in den modernen Kontext übersetzt und in ihrer existentiellen Bedeutung für den modernen Menschen entschlüsselt werden. Diese Übersetzung leistet die Religionspädagogik zum einen unter Bezug auf die Historische und Systematische Theologie, zum andern in Bezug auf die Erkenntnisse der Allgemeinen Pädagogik. Der Übersetzungsprozess kann nur gelingen, wenn beides berücksichtigt wird: der alte Text und der moderne Mensch. Es macht einen Unterschied, ob ich die existentielle Bedeutung theologischer Lebensinterpretationen einem Kind, einem jungen Erwachsenen, einem Greis, einem Reichen, einem Armen, einem Gebildeten, einem einfachen Menschen vermitteln möchte. Die Situation des jeweiligen Menschen ist präzise wahrzunehmen. Und dies vor allem unter entwicklungspsychologischer, soziologischer, pädagogischer, lebensphilosophischer und biographischer Perspektive. Bei aller Verschiedenheit der individuellen Situation aber gibt es ein verbindendes Element. Alle Menschen aller Zeiten, welchen Situationen sie auch verhaftet sein mögen, sind im „Willen zum Sinn“, also in ihrer Grundmotivation miteinander verbunden. Genau an dieser Stelle leuchtet die eminente Bedeutung der religionspädagogischen Arbeit und ihr Zusammenhang mit logotherapeutischem Denken auf. Denn: Die theologischen Grundinterpretamente sind Sinn eröffnende Auslegungen menschlicher Existenz. Sie entsprechen durchgängig dem „Willen zum Sinn“, der den Menschen kennzeichnet.

Es gibt im Wesentlichen vier theologische Traditionsstränge, welche die wichtigsten theologischen Interpretamente menschlicher Existenz vor Gott beinhalten. Die schöpfungstheologischen Traditionen. Die hamartiologischen Traditionen. Die soteriologisch-christologischen Traditionen. Die eschatologischen Traditionen. Es handelt sich durchweg um Sinn eröffnende, das Leben in sinnvoller Weise auslegende und in diesem Sinne um biophile Interpretationen menschlichen Lebens. Als Sinn eröffnende Interpretamente von Existenz kommen sie dem Menschen unter dem Aspekt seines „Willens zum Sinn“ entgegen.

Im Blick auf die schöpfungstheologischen Traditionen wäre in diesem Zusammenhang zu sagen: Es macht einen Unterschied, ob ich mich als Zufall der Materie begreife, nicht weiß, woher ich erstlich komme. Nicht weiß, wohin ich letztlich gehe. Oder ob ich mich und die Welt als Geschöpfe Gottes verstehe: von ihm gewollt. Von ihm geliebt. Dazu bestimmt, Ebenbild Gottes zu sein.

Im Blick auf die hamartiologischen Traditionen (Harmatiologie: Lehre von der Sünde) wäre anzumerken: Es macht einen Unterschied, ob ich den Menschen als durch und durch moralisches Wesen verstehe, das aber seine moralischen Maximen merkwürdigerweise in der Tat so nachhaltig konterkariert, dass er nicht nur sich selbst und das Zusammenleben mit anderen, vielmehr die Welt im Ganzen immer wieder nachhaltig gefährdet. Oder ob ich den trotz aller Moralität sich immer wieder durchsetzenden Wider-Sinn und Wahn-Sinn im privaten und öffentlichen Leben als Ausdruck und Folge der Entfremdung zwischen Gott und Mensch verstehe; der Entfremdung, die die Theologie im Begriff der „Sünde“ zu begreifen versucht.

Und bzgl. der christologischen Traditionen wäre zu bemerken: Es macht einen Unterschied, ob ich mich als absurde Existenz, z.B. als Sisyphos verstehe, dessen Glück darin besteht, die Steine bewusst zu wälzen und die Götter zu leugnen, und der nach dem Motto lebt: „Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann.“ (A. Camus, Der Mythos von Sisyphos, Hamburg 1959, S. 99). Ober ob ich das Antlitz des wahren Menschen in Jesus Christus entdecke, der achtsam auf diejenigen war, die im Schatten der Welt standen und – in der Sicht des Glaubens – durch den Tod ins unvergängliche Leben aufgehoben wurden.

Und im Blick auf die eschatologischen Traditionen wäre anzumerken: Es macht einen Unterschied, ob ich mich mit den negativen existentiellen Grundbefindlichkeiten – Endlichkeit, Entfremdung, Schuldverfallenheit, Fragmenthaftigkeit, Unerfülltheit – in tapferer Resignation abfinde, oder ob ich aus dem Glauben an eine Neuschöpfung lebe, in der auch mein Leben zu seiner Erfüllung kommt, trotz allem.

Forschungsperspektiven

Der logotherapeutische Impuls für die Religionspädagogik besteht vor allem darin, den Menschen als sinnorientiertes Wesen wahrzunehmen. Und zwar dadurch, dass man ihm zeigt, dass die den Glauben konstituierenden Traditionen Sinn eröffnende Traditionen sind. Die das religionspädagogische Feld immer noch beherrschende „problemorientierte Konzeption“ muss ausbalanciert werden durch eine sinnorientierte Konzeption religiöser Erziehung. Die Prinzipien dieser Konzeption sind formuliert. Es gilt, sie nun in die einzelnen religionspädagogischen Arbeitsfelder zu übersetzen. Es geht dabei um die Frage, wie man mit einem Menschen kommunizieren muss, damit er die Sinn eröffnenden theologischen Interpretamente begreift, sich von ihnen her versteht und sein Leben so besser besteht: handle es sich um Kinder, Jugendliche in der puberalen Ablösephase, junge Erwachsene oder um Menschen mittleren oder späten Alters.


Es gibt kaum etwas im menschlichen Dasein, das dem Menschen so sehr und in einem solchen Ausmaß ermöglichte, Distanz zu gewinnen, wie Humor.

Viktor Frankl

Schloss Schönbrunn